9 Mai 2025 Durchbrechung der ärztlichen Schweigepflicht im Erbrecht: Ausgewogenheit zwischen Privatsphäre und Beweisführung.

Einleitung
Die ärztliche Schweigepflicht bleibt nach dem Tod eines Patienten bestehen, aber Artikel 7:458a Absatz 1 Buchstabe c des niederländischen Bürgerlichen Gesetzbuches (BW) bietet Hinterbliebenen seit dem 1. Januar 2020 unter strengen Voraussetzungen eine Ausnahmemöglichkeit: Bei Vorliegen eines „schwerwiegenden Interesses“ kann die Schweigepflicht aufgehoben werden, sofern der Antragsteller glaubhaft macht, dass (1) dieses Interesse möglicherweise beeinträchtigt wird und (2) die Einsichtnahme für die Wahrung dieses Interesses erforderlich ist. Wie streng diese Voraussetzungen sind, geht aus dem jüngsten Urteil des Gerichts Rotterdam (3 maart 2025, ECLI:NL:RBROT:2025:2707) hervor, das den Antrag einer enterbten Tochter auf Einsichtnahme in die medizinischen und pflegerischen Unterlagen ihres Vaters abgelehnt hat, um dessen Testierfähigkeit zum Zeitpunkt der Errichtung seines letzten Testaments (27. Mai 2019) anzufechten .

Der Fall in Rotterdam:

In einem Eilverfahren forderte eine enterbte Tochter Einsicht in die medizinischen und pflegerischen Unterlagen ihres Vaters (verstorben am 22. März 2022), um dessen Willensfähigkeit zum Zeitpunkt der Abgabe seines Testaments vom 27. Mai 2019 zu überprüfen. Der Richter wies den Antrag mit folgender Begründung ab:

  1. Unzureichende konkrete Hinweise
    Der geriatrische Bericht vom Januar 2019 sprach von einer leichten kognitiven Störung, nicht von Willensunfähigkeit. Der Notar hatte keinerlei Zweifel an der Willensfähigkeit zum Zeitpunkt der Testamentserrichtung geäußert, und ein Eilverfahren im Juli 2019 ergab, dass der Erblasser seine Wünsche klar äußern konnte.
  2. Keine Notwendigkeit einer Durchsetzung
    Der Hausarzt und die Pflegeeinrichtungen wiesen nach Ansicht des Gerichts zu Recht darauf hin, dass unklar war, ob die Akte überhaupt relevante Informationen enthielt; eine Einsichtnahme würde daher einer „Fishing Expedition“ gleichkommen.
  3. Nichterschöpfung alternativer Quellen
    Die Tochter hatte weder beim Geriater noch beim GHZ eine Akte angefordert, noch ein Disziplinarverfahren gegen den Notar oder eine vorläufige Zeugenvernehmung eingeleitet, um die Umstände des Testaments aufzuklären.
  4. Fehlende Dringlichkeit
    Mehr als zwei Jahre nach ihrem ersten Antrag konnte keine dringende Notwendigkeit für eine sofortige Einsichtnahme nachgewiesen werden.
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Diese Faktoren veranlassten das Gericht, den Antrag abzulehnen und die Kosten zu verurteilen.

Wann kann das Berufsgeheimnis durchbrochen werden?

In einem Urteil des Amsterdamer Gerichts vom 1. September 2022 (ECLI:NL:RBAMS:2022:5178) stand eine ähnliche Frage im Mittelpunkt: Die Hinterbliebenen einer Tante, die ihre Erben enterbt hatte, forderten Einsicht in die Hausarztunterlagen, um die Willensunfähigkeit bei der Änderung des Testaments (Okt. 2017) nachzuweisen. Der Richter im Eilverfahren stützte sich dabei ausdrücklich auf den KNMG-Leitfaden „Einsicht in medizinische Akten für Hinterbliebene“ (19. Januar 2021) als Prüfungsrahmen. Aus diesem Leitfaden geht hervor, dass bei Enterbung und konkreten Hinweisen auf Willensunfähigkeit Einsicht gewährt werden kann. Der Amsterdamer Richter entschied, dass

  • Die Erben ein schwerwiegendes Interesse hatten: Sie waren enterbt worden und hatten in einem Verfahren zur Feststellung der Erbfolge einen Beweisauftrag erhalten, wodurch ein Interesse an der Einsichtnahme in die Krankenakte bestand.
  • Es gab konkrete Hinweise (u. a. medizinische Anzeichen, notarielle und gerichtliche Hinweise), dass die Tante möglicherweise geschäftsunfähig war.
  • Die Einsichtnahme in die Hausarztakte war notwendig, da diese die einzige verbleibende Quelle für relevante Informationen war.
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Daher wurde die Einsichtnahme, beschränkt auf den relevanten Zeitraum um das Testament herum, gewährt.

In einem anderen Urteil des Gerichts Amsterdam vom 28. November 2023 (ECLI:NL:RBAMS:2023:7533) beantragte der Bruder einer Verstorbenen Einsicht in die Hausarztakte, um zu untersuchen, ob sie bei der Änderung zweier Testamententwürfe im Mai und Juni 2023 unter Einfluss stand. Der Richter entschied, dass

  • Die Enterbung und eine erhebliche Abweichung zwischen dem Entwurf und dem endgültigen Testament stellten ein schwerwiegendes Interesse dar.
  • Der Erbe hatte glaubhaft gemacht, dass ohne Einsichtnahme sein Interesse beeinträchtigt würde.
  • Die Einsichtnahme war erforderlich, um den Verdacht der Beeinflussung (u. a. starke Medikamente, Brustkrebs, Pflegeverhältnisse) zu untersuchen.
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Der Richter gab der Klage statt und ordnete die Herausgabe der vollständigen Akte über den relevanten Zeitraum an.

Lehren für die Praxis

Aus der Rechtsprechung geht hervor, dass es von wesentlicher Bedeutung ist, sehr genau anzugeben, was man aus einer Arztakte verlangt. So ist es ratsam, den Zeitraum um die Erstellung des Testaments herum zu begrenzen und aktenbezogene Teile anzufordern, die in direktem Zusammenhang mit dem rechtlichen Interesse stehen (Willensfähigkeit, traumatische Ereignisse, Medikamentenberichte). Ein weit gefasster Antrag wird schnell als „Fishing Expedition“ bezeichnet.

Es ist auch wichtig, die Akte sorgfältig zusammenzustellen. Sammeln Sie zunächst alle verfügbaren Quellen (Fachärzte, Disziplinarbeschwerden gegen Notare, frühere Gerichtsberichte), um ein schwerwiegendes Interesse geltend zu machen. Damit können Sie erklären, warum andere Quellen (Geriater, Krankenhausakte, Disziplinarausschuss) unzureichend sind oder keinen rechtzeitigen Zugang bieten.

Die Richter sind sich einig, dass die KNMG-Leitlinien einen zuverlässigen Bewertungsrahmen für Art. 7:458a Abs. 1 Buchstabe c BW bieten.

Fazit

Das Urteil des Gerichts Rotterdam vom 3. März 2025 verdeutlicht die Grenze der Ausnahme von der ärztlichen Schweigepflicht: Ohne konkrete Hinweise, Notwendigkeit und Ausschöpfung alternativer Wege bleibt die Akte geschlossen. Dem stehen verschiedene Amsterdamer Urteile gegenüber, in denen aufgrund von Erbunwürdigkeit und eindeutigen medizinischen Hinweisen die Einsichtnahme sehr wohl gewährt wurde. Es ist äußerst wichtig, den Anspruch genau abzugrenzen, das überwiegende Interesse anhand der KNMG-Leitlinien sorgfältig zu begründen und alternative Informationskanäle bereits in einem frühen Stadium auszuschöpfen. Dadurch erhöhen Sie die Chance, die ärztliche Schweigepflicht zu durchbrechen.

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