Das niederländische Recht bietet einem minderjährigen Kind ab 12 Jahren oder einem Minderjährigen, der als fähig angesehen werden kann, seine Interessen richtig wahrzunehmen, die Möglichkeit, einen Antrag bei Gericht zu stellen, den so genannten „informellen rechtlichen Zugang“. Der Minderjährige kann sich schriftlich oder telefonisch an das Gericht wenden, um beispielsweise eine Änderung der elterlichen Sorge oder eine Änderung oder Beendigung einer Besuchsregelung zu beantragen.
Das Landgericht der nördlichen Niederlande hatte kürzlich über die Frage zu entscheiden, ob ein Minderjähriger auch selbst den Umgang mit einem Halbbruder oder einer Halbschwester beantragen kann.
Worum ging es in diesem Fall?
Die Minderjährige lebte nach dem Ende der Beziehung ihrer Eltern weiterhin bei ihrer Mutter. Inzwischen hat der Minderjährige einen Halbbruder und eine Halbschwester, die aus einer Beziehung zwischen der Mutter und ihrem neuen Partner stammen.
Im September 2022 zog die Minderjährige zu ihrem Vater und dessen neuer Partnerin. Infolge dieses Umzugs wechselte sie auch die weiterführende Schule. Seit dem Umzug der Minderjährigen von ihrer Mutter zu ihrem Vater hat sich der Kontakt zu ihrer Mutter verschlechtert. Die Minderjährige gab an, dass sie ihre Mutter unmittelbar nach dem Umzug zu ihrem Vater noch besuchte, dort aber große Spannungen erlebte. Dies führte schließlich dazu, dass sie die Wohnung ihrer Mutter nun über einen längeren Zeitraum nicht mehr besuchte. Infolgedessen hat sie auch keinen körperlichen Kontakt mehr zu ihrem Halbbruder und ihrer Halbschwester. Sie ruft sie zwar jede Woche per Video an, würde aber gerne irgendwie wieder körperlichen Kontakt zu ihnen haben. Die Minderjährige hat das Gericht gebeten, dies zu ermöglichen.
Der Standpunkt der Mutter
Die Mutter hat in dem Verfahren angegeben, dass der Minderjährige einfach zu ihr nach Hause kommen kann. Die Mutter erkennt die von ihr erwähnten Spannungen nicht an. Nach Angaben der Mutter wurde der Minderjährige in der Grund- und Sekundarschule häufig gemobbt. In diesem Zusammenhang brachte die Mutter sie dazu, mit ihrem Vater zu besprechen, ob es für sie eine Option wäre, bei ihm zu leben und eine andere weiterführende Schule zu besuchen. Daraufhin schien dies an einem Wochenende geklärt zu sein. Darüber wurde sie sehr wütend. Nicht auf den Minderjährigen, sondern auf den Vater. Es gibt keine Kommunikation mehr zwischen ihr und dem Vater. Dafür ist zu viel zwischen ihnen passiert. Die Tatsache, dass die neue Partnerin des Vaters sich einzumischen begann, hat auch nichts Gutes bewirkt. Die Mutter ist überzeugt, dass ihre Wut nie vergehen wird. Für sich selbst konnte sie der Sache einen Platz geben. Sie würde sich freuen, wenn der Minderjährige wieder zu ihr nach Hause käme, aber wenn das nicht möglich ist, hat sie auch damit kein Problem. Sie weiß, dass es der Minderjährigen bei ihrem Vater gut geht.
Was den Kontakt zwischen der Minderjährigen und ihrem Halbbruder und ihrer Halbschwester angeht, so ist sie der Meinung, dass ihr Partner auch ein Mitspracherecht haben sollte, da es seine Kinder sind. Kontakte im Gemeindezentrum oder auf dem Spielplatz wären in Ordnung, aber sie möchte die Kinder nicht mit sich herumschleppen, und sie möchte auch keine festen Termine. Laut der Mutter sind die Kinder jetzt in einem Alter, in dem sie auch eigene Aktivitäten haben. Sie haben jetzt wöchentliche Bildbesprechungen, aber sie haben schon jetzt nicht immer Lust dazu. Schließlich ist die Mutter der Meinung, dass sie oder ihr Partner bei allen Kontakten anwesend sein sollten. Sie kann auch damit einverstanden sein, wenn ein Sozialarbeiter bei den Kontakten anwesend ist.
Der Standpunkt des Vaters
Nach Ansicht des Vaters geht es dem Minderjährigen gut. Dies wird auch von der Schule bestätigt. Die Tatsache, dass es keinen körperlichen Kontakt zwischen der Minderjährigen und ihrem Halbbruder und ihrer Halbschwester gibt, stört den Vater sehr. Der Vater hat eine ganz andere Meinung darüber, wie der Umzug der Minderjährigen zu ihm verlaufen ist. Nachdem die Minderjährige mit ihm über einen möglichen Umzug gesprochen hatte, soll sich in der häuslichen Situation der Mutter etwas Unangenehmes ereignet haben, woraufhin sie ziemlich plötzlich bei ihm einzog. Dies geschah in Absprache mit der Schule und den zuständigen Sozialdiensten. Der Vater ist der Ansicht, dass das, was jetzt geschieht, nicht gut für die Minderjährige ist. Es bringt sie erneut in einen Loyalitätskonflikt.
Die Position und der Rat des Kinderschutzrates
Der Rat befasst sich schon seit längerer Zeit mit diesen Eltern, so dass ihm eine meterhohe Akte vorliegt. Die Bedenken des Rates führten seinerzeit zu einer Überwachungsanordnung für die Kinder (die Minderjährige und ihren Bruder). Die Überwachungsanordnung wurde schließlich nicht erneuert, weil nichts zur Verbesserung der Situation beitrug. Kinder sind ihren Eltern gegenüber sehr loyal, aber in einer Situation, in der sie sich aufgrund der Handlungen ihrer Eltern nicht sicher oder angenehm fühlen, sehen sie sich manchmal gezwungen, zwischen ihnen zu wählen. Der Bruder des Minderjährigen hat sich dafür entschieden, bei seiner Mutter zu leben und keinen Kontakt mehr zu seinem Vater zu haben. Es ist nicht völlig undenkbar, dass die Minderjährige ihrem Vater signalisieren wollte, dass sie ihn immer noch mag, und mit ihm zusammenleben wollte. Auch die Tatsache, dass sich der Halbbruder und die Halbschwester manchmal gegen die Bildanrufe wehren, kann bereits ein erstes Anzeichen für einen Loyalitätskonflikt sein. Der Rat hält es daher für wichtig, in einer Situation wie dieser, in der es nicht mehr möglich ist, an der Ursache der zugrunde liegenden Probleme zu arbeiten, zu prüfen, wie den Wünschen des Minderjährigen noch entsprochen werden kann, und hat den Parteien geraten, dies mit einem Berater zu besprechen und in gegenseitiger Absprache Umgangszeiten zu vereinbaren.
Urteil des Landgerichts
In diesem Fall handelt es sich um einen so genannten „informellen Gerichtszugang“. Dieser formlose Zugang zum Gericht ermöglicht es einem Kind, das 12 Jahre oder älter ist, oder manchmal auch einem Kind, das noch jünger ist, sich formlos an das Gericht zu wenden. Das Gericht kann, wenn der Richter dies wünscht, von Amts wegen über den Antrag eines Kindes entscheiden, nachdem der Antrag geprüft und alle Beteiligten dazu angehört worden sind.
Ein Kind kann den formlosen Zugang zum Gericht in Anspruch nehmen, wenn dies gesetzlich vorgesehen ist. Das Gesetz sieht drei Möglichkeiten vor:
- Gemäß Artikel 1:251a Absatz 4 des Zivilgesetzbuches kann eine Entscheidung über das Sorgerecht eines Elternteils während des Scheidungsverfahrens getroffen werden. Nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs kann dies auch nach dem Scheidungsverfahren geschehen, es sei denn, es wurde bereits im Scheidungsverfahren eine Entscheidung in dieser Sache getroffen (siehe: HR 4. April 2008, ECLI:NL:HR:2008:BC2241);
- Gemäß Artikel 1:253a Absatz 4 jo. 1:377g des Bürgerlichen Gesetzbuchs kann ein Kind, wenn seine Eltern die gemeinsame elterliche Sorge für es ausüben, auch die Festlegung oder Änderung der Aufteilung der Pflege- und Erziehungspflichten beantragen;
- Gemäß Artikel 1:377g jo. 1:377a, 1:377b und 1:377e kann ein Kind auch die Festlegung oder Änderung einer Besuchsregelung oder einer Informations- und Beratungsregelung beantragen.
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Nach Auffassung des Kindergerichts ist der Antrag des Minderjährigen zulässig. In diesem Fall handelt es sich um die unter Punkt 2 genannte Situation. Die Minderjährige selbst hat das Recht, beim Jugendgericht unmittelbar den Umgang mit Personen zu beantragen, die in einer engen und persönlichen Beziehung zu ihr stehen, wie in diesem Fall ihr Halbbruder und ihre Halbschwester. Der Begriff „enge persönliche Beziehung“ bezieht sich auf den Begriff „Familienleben“ im Sinne von Artikel 8 EMRK. Diese besteht zwischen der Minderjährigen und ihrem Halbbruder und ihrer Halbschwester. Das in Artikel 8 EMRK geschützte Recht umfasst nämlich auch Beziehungen zwischen engen Blutsverwandten. Abgesehen von ihrer Blutsverwandtschaft leben sie seit geraumer Zeit (mehrere Jahre) als Teil einer gemeinsamen Familie unter einem Dach zusammen und erleben sich daher täglich gegenseitig. Die Beziehung zu ihrem Halbbruder und ihrer Halbschwester war daher für das Familienleben, wie es die Minderjährige kennengelernt hat, sehr wichtig. Das Vorhandensein eines ¹Familienlebensª im Sinne von Artikel 8 EMRK begründete somit ein Recht auf Besuchsrecht.
Das Jugendgericht ging davon aus, dass die Minderjährige mit erheblichen Loyalitätsproblemen zu kämpfen hatte, da sie mit einer Dynamik der gegenseitigen Enttäuschung und Wut zwischen den (Stief-)Eltern zurechtkommen musste, während sie natürlich alle Erwachsenen, die ihr wichtig waren, lieben wollte. Der Umzug zum Vater ist für alle Beteiligten zu einer neuen Quelle von Vorwürfen und Kummer geworden, und die Minderjährige versucht, die Scherben ein wenig aufzuheben, indem sie darum bittet, zumindest Kontakt zu ihrem Halbbruder und ihrer Halbschwester zu haben. Gleichzeitig stellt das Jugendgericht fest, dass eine (weitere) Inanspruchnahme von Hilfen derzeit kein Thema zu sein scheint und die Situation „so ist, wie sie ist“. Vor diesem Hintergrund ist zu prüfen, wie das Umgangsrecht des Minderjährigen erfüllt werden kann.
Die Mutter und der Stiefvater haben keine Einwände gegen den Wunsch der Minderjährigen erhoben und waren - wenn auch unter Auflagen - bereit, an den Bemühungen der (bereits beteiligten) Betreuer mitzuwirken, den Kontakt zwischen der Minderjährigen und ihrem Halbbruder und ihrer Halbschwester konkret und praktisch zu gestalten. Das Jugendgericht ist der Auffassung, dass in erster Linie der Grundsatz gelten sollte, dass die Besuche in Anwesenheit der Mutter oder des Stiefvaters (aus der Ferne) stattfinden und dass auch ein Sozialarbeiter anwesend ist, wenn der Minderjährige dies wünscht. Es sollte angestrebt werden, dass der Kontakt (mindestens) einmal im Monat an einem gemeinsam vereinbarten Ort und zu einer gemeinsam vereinbarten Zeit stattfindet.
Der Kinderrichter schrieb der Minderjährigen einen Brief, in dem er ihr mitteilte, was er als Ergebnis des Gesprächs mit den Eltern beschlossen hatte.
Schlussfolgerung
Ein Minderjähriger hat das Recht, direkt beim Gericht selbst den Umgang mit Personen zu beantragen, die in einer engen und persönlichen Beziehung zu ihm stehen, wie in diesem Fall ein Halbbruder oder eine Halbschwester. Der Begriff „enge persönliche Beziehung“ bezieht sich auf den Begriff „Familienleben“ im Sinne von Artikel 8 EMRK.
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